MigraTouriSpace – Raummigration und Tourismus

Stefanie Bürkle
Team: Janin Walter | Ilkin Akpinar | Tae Wong Huur | Gabriel Banks | Aaron Lang | Berit Hummel

Das aktuelle Kunst- und Forschungsprojekt Projekt von Stefanie Bürkle ‚MigraTouriSpace‘ beschäftigt sich mit dem Reisen als einer Annäherung der Phänomene Migration und Tourismus. Im Sinne des Projektes geht es um das Reisen von Bildern, Menschen und Räumen.

Migrations- und Tourismusforschung sind ungeachtet ihrer mobilen Forschungsobjekte lange Zeit weitgehend dem Ideal der Sesshaftigkeit verhaftet geblieben. Tourismus wurde meist als temporäre Auszeit aus dem sesshaften Alltagsleben definiert, und die TouristInnen wurden einer immobilen Lokalbevölkerung gegenübergestellt. Entsprechend galt Migration als vorübergehender Prozess der Wanderung von einem Ort der Sesshaftigkeit zu einem anderen, und nur die Konflikte zwischen der „mitgebrachten Kultur“ der MigrantInnen und der „lokal verwurzelten Kultur“ der Aufnahmegesellschaft wurden beachtet (Lenz 2010).

Das Projekt ‚MigraTouriSpace‘ untersucht die Überlagerung von Migration und Tourismus. Raummigration meint Migration, bei der mit den Menschen auch Räume wandern (Bürkle 2002). Tourismus meint nicht mehr Urlaub als Ausnahmezustand, sondern den touristischen Blick der, mit nach Hause genommen, längst das prägt, was man Alltag nennt. Die als Case Studies ausgewählten Orte in Korea und Deutschland, das vietnamesische Großhandelszentrum Dong Xuan Center in Berlin Lichtenberg, das deutsche Dorf Dogil Maeul in Südkorea, stehen für das Spannungsfeld zwischen einer Migration kulturell kodierter räumlicher Kontexte und touristischen Praktiken.

Projektbeschreibung

Mit ihrem interdisziplinären Team untersucht Stefanie Bürkle vier Jahre lang die Überlagerung und Wechselwirkung der Phänomene ‚Migration‘ und ‚Tourismus‘ in urbanen Kontexten und deren Auswirkungen auf den städtischen Raum. Die durch den Corona Lockdown bedingten Veränderungen verdeutlichen die touristischen Implikationen im Stadtraum.

Das Projekt ‚MigraTouriSpace‘ untersucht dabei Raumbezüge, die durch gegenseitige Überlagerung der Phänomene Migration und Tourismus entstehen. Die sich abzeichnenden Raumlogiken und Handlungspraktiken werden zur Re-Figuration der sozialen Ordnung durch Prozesse des Spacing und der mit diesen verbundenen, wahrnehmungsbezogenen, Syntheseleistungen (Löw 2001) in Beziehung gesetzt. Die Phänomene Migration und Tourismus weisen aufgrund der beiden zugrundeliegenden Bewegungsaktivität strukturelle Ähnlichkeiten auf und können als ein Mobilitäts-Kontinuum im Raum verstanden werden. Die Imaginationen von Räumen, die Migration und Tourismus begründen, sind ein Motor der Re-Figurationsprozesse, die nicht konfliktfrei ablaufen (Holert / Terkessidis 2000).

Zentrale Fragestellung des Projektes ist die künstlerische, visuell-bildhafte Nachweisbarkeit der Re-Figuration von Räumen. Der innovative Forschungsansatz, den Raum als bildwissenschaftliche Grundlage für die Ablesbarkeit der Überlappung von Migration und Tourismus und ihre Einschreibung in die urbane Umwelt zu begreifen, bedingt eine interdisziplinäre Vorgehensweise jenseits der üblichen disziplinären Ansätze hinsichtlich Migration und Tourismus. Die Integration künstlerischer und wissenschaftlicher Methoden und der Einsatz künstlerischer Medien haben sich in der Vergangenheit bei allen Künstlerischen Forschungsprojekten von Stefanie Bürkle als wertvolle Methodik bewährt

Ausstellung und Buch

Die Ergebnisse der künstlerisch-wissenschaftlichen Forschung werden in Form einer begehbaren Mehrkanal-Video-Installation ausgewertet und zugleich sinnlich erfahrbar gemacht. Die Ergebnispräsentation in Form einer Ausstellung 22.April – 23.Mai 2021 im Collaboratorium CLB im Aufbauhaus am Moritzplatz in Berlin macht die Forschungsergebnisse einem größerem, auch nicht- fachwissenschaftlichem nationalem und internationalem Publikum zugänglich und eröffnet neue Perspektiven auf die gesellschaftlich relevanten Themen Migration und Tourismus.

Eine Publikation des Projektes erscheint im Jovis Verlag im April/Mai 2021. ISBN 978-3-86859-697-7

Case Studies

1: Dong Xuan Center, Berlin Lichtenberg

Ehemalige vietnamesische Arbeitsmigranten der DDR gründeten in der Nachwendezeit vielfältige selbstständige Existenzen: Kleider- und Lebensmittelgeschäfte, Imbisse und Restaurants prägen seitdem ganze Berliner Stadtteile (Bürkle 2002). Der von dem Unternehmer Van Hien Nguyen gegründete Dong Xuan Center ist nach dem Großmarkt Hanois benannt. Die Organisation der Gewerbe und auch Warenanordnung folgt ebenfalls der in Hanoi üblichen Warenpräsentation. Dies verstehen wir als Raummigration im Sinne von kulturellen Praktiken und physisch erfahrbaren Räumen, die mit den Menschen wandern. Im vietnamesischen Großhandelscenter in Berlin findet man einerseits Waren aus dem asiatischen und indischen und neuerdings auch türkischen Raum, gleichzeitig repräsentiert er mit seinen Frisörsalons, Nagelstudios und Restaurants für viele Vietnamesen auch ein Stück Hanoi in Berlin. Dieser Zusammenhang von vernaculärer Architektur und Identität (Bürkle 2016) erfährt eine weitere Bestätigung durch Touristen in Berlin, auf deren Sightseeingtouren „Klein Hanoi in Lichtenberg“ ein exotischer Bestandteil ist.

2: Dogil Maeul, ein deutsches Dorf in Südkorea

Auf Initiative eines Lokalpolitikers entstand 2001 in Namhae-gun ein Dorf für koreanische Gastarbeiter, die aus Deutschland in die ehemalige Heimat zurückkehren wollen. Dies war einerseits eine Geste der Anerkennung an die ehemaligen Auswanderer, die durch ihr in Deutschland verdientes Geld ihre Familien in Südkorea unterstützten, andererseits war die deutsche Siedlung auch gleichzeitig als Touristenattraktion geplant. Der Landkreis erwarb das Land, entwickelte die Bauplätze und legte die Infrastruktur an. Zu den Baubedingungen gehört auch, dass die Häuser „deutsch“ aussehen sollen. Hier leben heute um die 60 Ehepaare, mit teilweise deutschen Partnern, alle im Rentenalter, in zweistöckigen Einfamilienhäusern, mit roten Walm- oder Satteldächern und Vorgärten. An den Wochenenden ist das Dorf ein beliebtes Ausflugsziel für koreanische Touristen.

Projektkontext

Das Projekt ‚Raummigration und Tourismus‘ ist Teil des DFG finanzierten Sonderforschungsbereichs 1265

Re-Figuration von Räumen‘, der sich mit räumlichen und gesellschaftlichen Veränderungen, die seit den 1960er Jahren stattfinden, beschäftigt. 15 Teilprojekte aus Soziologie, Geografie, Architektur und Planungswissenschaften, der HU, FU und TU Berlin analysieren die Wandlungen in der räumlichen Organisation des Sozialen und der sozialen Organisation von Räumen mit unterschiedlichen Themenschwerpunkten.

Das Projekt ‚Raummigration und Tourismus’ hat innerhalb des SFB eine Sonderstellung: es verfolgt einerseits einen eigenständigen künstlerischen Forschungsansatz und reflektiert gleichzeitig die in anderen 15 Teilprojekten näher bestimmten Raumkonstitutionen durch künstlerische Methoden und Medien. https://sfb1265.de/

Das Projekt ‚MIGRATOURISPACE‘ von Stefanie Bürkle ist eine Weiterführung ihrer künstlerischen Arbeit, in der sie sich seit Jahren mit der visuellen Lesbarkeit von Stadtraum hinsichtlich gesellschaftlicher Entwicklungen und Konflikte beschäftigt. Beispiele ihrer vorangegangenen Projekte sind: „Beirut- Berlin, ein Vergleich zweier Städte nach der Teilung (1995-1997)“, „Eiscafé Venezia“(1999-2000), „Loi chao tu Friedrichshain“ (2000-2002), Loi Chao tu Hanoi (2004-2006), „Placemaking“ (2007-2009), „Migration von Räumen, Identität durch Architektur im Kontext türkischer Remigration“ (2012-2016) und „Atelier + Labor, Werkstätten des Wissens“ (2017-2019). www.stefanie-buerkle.de

Quellen:
Bürkle, Stefanie (2002): Eiscafé Venezia, Berlin.
Holert, Tom und Terkessidis, Mark (2006) Fliehkraft: Gesellschaft in Bewegung – von Migranten und Touristen, Köln
Lenz, Ramona (2010): Mobilitäten in Europa, Migration und Tourismus auf Kreta und Zypern im Kontext des europäischen Grenzregimes, Wiesbaden
Löw, Martina (2001): Raumsoziologie, Frankfurt am Main.